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SPIEGEL ONLINE - 17. März 2006, 13:37
URL: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,406496,00.html Bizarre Netz-Karriere
Tokio Hotel verblasst im Sonnenlischt
Von Richard Meusers
Schnappi? Tokio Hotel? Olle Kamellen! Der neueste Hype gilt drei mehr oder weniger sangesbegabten Jungs aus der Provinz und ihrem "Sonnenlischt". Eine Geschichte über die seltsame Macht der Ironie - und die des Netzes.
Der Weg zu Ruhm und Plattenvertrag führt in der Regel über ein nervenraubendes und für Veranstalter kostspieliges Casting. Das Geld kommt wieder rein, wenn die mehr oder weniger gekonnten Sangesversuche im Fernsehen stattfinden und die entsprechenden Quoten bringen. Beispiel: "Deutschland sucht den Superstar" des Kölner Privatsenders RTL.
Foto: Grup Tekkan
Video: Grup Tekkan
http://www.youtube.com/watch?v=pYak2F1hUYA
Drei türkische Jungs aus der pfälzischen Provinz zeigen, dass es auch ohne Aufwand geht. Anfang März tauchte ein von den Drei selbst eingesungener und gefilmter Videoclip im Internet auf, und zwar auf der Videoplattform Youtube. Darin kann man Ismael 18, Selcuk und Fatih, beide 17, alias "Grup Tekkan" beim bizarren Versuch besichtigen, ein Liebeslied zu singen. In schönster Pennälerlyrik wird da ein "Girl" angeschmachtet, Textprobe:
Wo bist du, mein Sonnenlischt?
Isch suche disch und vermisse disch.
Isch respektier nur disch,
Damit du's weißt: Isch liebe disch.
Innerhalb kürzester Zeit wurde damit eine virtuelle Lawine losgetreten. Auslöser war der Blogger Matthias Oborski, der in seinem Weblog "ntropie" am 3. März einen Link zum Video setzte und das Ganze prophetisch mit "The next big thing!" überschrieb. Der Clip machte seinen Weg durch Blogs und Emails, wobei die Reaktionen der meisten zwischen ungläubigem Staunen und Totlachen schwankten. Nur ein paar Tage später stand ein Interview auf "Bunte-Online", Fernsehen und Plattenfirmen begannen sich für die neuen Internetstars zu interessieren.
Natürlich sind mangelndes Können oder schlechter Geschmack nicht unbedingt ein Erfolgshindernis - siehe "Schnappi", "Tokio Hotel", etc. Wer wüsste das besser als Stefan Raab, der Zeremonienmeister des immerwährenden Kindergeburtstages. Der lud die drei Sangeskünstler in die gestrige Ausgabe von "TV Total" ein und konstatierte: "Da seid ihr aber harte Konkurrenz für 'Tokio Hotel'". Was wohl nicht nur das Saalpublikum mit grellem Gelächter quittierte. Die Anhängerschaft kann sich auf weitere Songs gefasst machen, denn "in zwei Tagen hab ich zehn Songs geschrieben", verkündete Ismael. Ihre Künste durften sie anschließend noch live auf der Bühne darbieten.
Folgerichtig haben die drei mittlerweile bereits einen Plattenvertrag, sie sind beim Label Superstar Recordings untergekommen, das sich bislang mit Remix und Neuedition von erfolgreichen Clubhits beschäftigt - und zu Universal Music gehört. Am 24. März soll "Sonnenlischt" als Maxi herauskommen.
Doch was ist da eigentlich passiert?
Oberflächlich betrachtet geht das Ganze als musikalischer Wiedergänger des legendären "Star Wars Kid", als Gelegenheit zur Schadenfreude durch, und die Blogosphäre beweist, mit wie wenig Aufwand sich maximale Aufmerksamkeit schaffen lässt. Wird durch diese Ereignisse die Macht des Zufalls demonstriert oder ist die ganze Sache nicht doch sorgfältig eingefädelt worden?
Johnny Haeusler, der in seinem Blog "Spreeblick" ebenfalls den Videoclip verlinkt hatte, stellte leicht resigniert fest: "Da tippt man sich die Finger wund und redet sich den Mund fusselig, polarisiert und debattiert, hört zu und widerspricht und macht und macht und macht... Und dann verlinkt man einmal ein lustiges Video und plötzlich sind 30.000 Leute auf der Seite (...)."
Wie zu erwarten, hat die Aktion bereits erste Nachahmer auf den Plan gerufen, die mit ähnlicher Begabung wie die Vorbilder, aber möglicherweise deutlich weniger Ernst, ihre Coverversionen im Netz vorstellen.
Alles Zufall? Manche Marketingstrategen haben inzwischen Macht und Dynamik von Weblogs verstanden. Und anderen ist womöglich gerade ein "Sonnenlischt" aufgegangen.